Die Erforschung von Kleidung, Textilien und Mode hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem großen und wichtigen Forschungsfeld in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte, Kunstgeschichte und Archäologie entwickelt. Die dabei angewandten Perspektiven, Methoden und Erkenntnisinteressen sind äußerst unterschiedlich. Untersucht werden insbesondere der modische Wandel in Norm und Praxis, die Überlieferung von Kleidungsstücken und textilen Fragmenten, die technischen und physikalischen Facetten des Produktions- und Färbeprozesses, die Wechselwirkungen zwischen textilen und anderen handwerklichen Medien, der Wert von Textilien sowie der Handel mit ihnen und viele andere Themen. Kaum ein anderes Forschungsfeld arbeitet zudem so interdisziplinär. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass Textilien einerseits zu den zentralen materiellen Gütern der Menschheit gehören und sich andererseits durch eine große Vielfalt und Komplexität auszeichnen. Gefördert wird die praktizierte Interdisziplinarität daneben durch die Tatsache, dass es wenige andere materielle Güter gibt, die im internationalen Handel und im großräumigen Austausch von technischen Fertigkeiten und ästhetischen Vorstellungen eine vergleichbare Rolle spielten.
Ein weiterer Grund für die Expansion des Forschungsfeldes liegt sicherlich in der großen Anziehungskraft, die Kleidungsstücke und textile Fragmente auf den modernen Betrachter und die moderne Betrachterin innerhalb und außerhalb der Wissenschaft ausüben. Entsprechend sind auch Museen, Sammlungen und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen bei der Analyse und Präsentation von Textilien äußerst aktiv. Im Metropolitan Museum of Art in New York wurde beispielsweise im Jahr 2014 die Ausstellung Interwoven Globe: The Worldwide Textile Trade, 1500-1800 gezeigt, in welcher der internationale Transfer von Design vom 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert durch das Medium der Textilien aus einer globalen Perspektive dargestellt wurde. In den Jahren 2016 bis 2019 folgte im selben Museum eine vierteilige Ausstellungsserie, die sich erneut auf Textilien konzentrierte und zum größten Teil aus eigenen Beständen bestückt wurde. Unter dem Titel The Secret Life of Textiles wurden Textilien aus pflanzlichen, tierischen und synthetischen Fasern gezeigt und in einen breiten kulturhistorischen Kontext gestellt. Von diesen Ausstellungen ließ sich Nikolas Vryzidis in doppelter Weise inspirieren: Im Museum of Islamic Art (Benaki) in Athen versammelte er im Jahr 2016, unterstützt von der British School at Athens, eine Gruppe von Fachleuten aus mehreren akademischen Disziplinen, die Vorträge zu verschiedenen Aspekten der vormodernen textile studies hielten und dabei ihre Aufmerksamkeit auf den interkulturellen Austausch und grenzüberschreitende Rezeptionsvorgänge richteten. Zudem wählte Vryzidis für die nun erfolgte Publikation der Vorträge einen Titel, der den Ausstellungstitel des Met aufgreift und variiert. Wie die Ausstellungsmacher und Ausstellungsmacherinnen in New York spielt der Herausgeber damit auf die verborgene oder nicht leicht zu entschlüsselnde Bedeutungsvielfalt von Textilien an. So manches Detail der Produktion, Funktion und Verwendung von Kleidungsstücken ist so “versteckt,” dass eine internationale und interdisziplinäre Arbeit nötig ist, um es zu entziffern, in einen größeren Zusammenhang zu stellen und einem breiten Publikum verständlich zu machen.
Die Beiträge der renommierten Autoren und Autorinnen behandeln Textilien, ihre Produktion, ihre Gestaltung und ihre Funktionen in verschiedenen mediterranen Kontexten und darüber hinaus während des Mittelalters und der Frühen Neuzeit vom 8. bis zum 18. Jahrhundert. Die Vielfalt der Ansätze umfasst archäologische, anthropologische und kunsthistorische Perspektiven zu einer Vielzahl von Themen. Laura Rodríguez Peinado und Ana Cabrera-Lafuente (“New Approaches in Mediterranean Textile Studies: Andalusí Textiles as a Case Study”) belegen in ihrem Text die Wechselwirkungen zwischen muslimischen und christlichen Webern auf der Iberischen Halbinsel und fordern--gestützt auf ihre Erkenntnisse zu Rohstoffen, Webtechniken und Webmustern--eine neue vergleichende Sichtweise auf “spanische Textilien” des Mittelalters. Wie in anderen Untersuchungsfeldern zeigt sich, dass religiös-politische Grenzen im Mittelalter keineswegs undurchlässig waren. Avinoam Shalem (“Metaphors We Dress With: Medieval Poetics about Textiles”) zeigt anhand von Versen aus unterschiedlichen Jahrhunderten, wie mittelalterliche muslimische Poeten in ihren Texten die ästhetische und soziale Bedeutung sowie Raffinesse von Textilien behandelten. Damit illustriert der Autor einen weiteren Zugang, der die Bedeutung der Literaturwissenschaft für das Forschungsfeld deutlich macht. Scott Redford (“Flags of the Seljuk Sultanate of Anatolia: Visual and Textual Evidence”) zeigt, dass die türkischen Seldschuken für ihre (Kriegs)Fahnen in Anatolien auf byzantinische Muster zurückgriffen, diese aber mit zusätzlichen Mustern und muslimischen Inschriften anreicherten. Gestützt auf unterschiedliche Quellengattungen (Buchmalerei, schriftliche Quellen und Wandinschriften) kann der Autor nachweisen, dass die seldschukischen Fahnen zwar auf einer grenzübergreifenden politischen Ikonographie beruhten, aber dennoch ihre eigene Identität entfalteten und so von den Fahnen des Gegners unterscheidbar blieben. Maria Sardi (“Foreign Influences in Mamluk Textiles: The Formation of a New Aesthetic”) beleuchtet die Rezeption von ausländischen Einflüssen auf die Produktion von Seiden und anderen Stoffen im Mamlukenreich. Bei unterschiedlichen Mustern (gepaarte Tiere in Medaillons, florale und geometrische Muster) beobachtet sie Einflüsse sowohl aus dem byzantinischen, dem seldschukischen als auch dem persisch-mongolischen und chinesischem Bereich. Für das 14. Jahrhundert stellt sie eine neue eigenständige Formensprache in der mamlukischen Weberei fest, welche ausländische Vorbilder zu neuen “mamlukischen” Erzeugnissen verarbeitete. Zur selben Zeit wurden allerdings auch chinesische und italienische Einflüsse ausgeprägter. Einzig im Bereich der bedruckten Textilien lässt sich ihrer Meinung nach keine solche interkulturelle Wechselwirkung feststellen. Ein ähnliches Bild eines “interwoven globe” entwirft Vera-Simone Schulz (“Entangled Identities: Textiles and the Art and Architecture of the Apennine Peninsula in a Trans-Mediterranean Perspective”) bei ihrer Beschreibung der Textilproduktion im spätmittelalterlichen Italien. Die Apenninenhalbinsel in der geographischen Mitte des Mittelmeers erweist sich beim Studium der textilen Künste einmal mehr als ein Zentrum des internationalen Austausches: Rohmaterialien wurden importiert, Fertigprodukte über das Mittelmeer und die Alpen exportiert, durch die Migration von Handwerkern verbreitete sich das fachliche Wissen über die Grenzen der konkurrierenden Städte hinaus. Die Verflechtung der Webkünste ging so weit, dass selbst die Verfasser von zeitgenössischen Inventaren sich nicht immer sicher waren, ob bestimmte Textilien “asiatisch/tatarisch” oder italienisch waren--und wenn letzteres der Fall ist, ob sie in Lucca, Venedig oder anderswo hergestellt worden waren. Auch in den Beiträgen von Nikolaos Vryzidis (“Animal Motifs on Asian Textiles used by the Greek Church: A Case Study of Christian Acculturation”; Appendix by Dimitris Loupis: “Woven Islamic Inscriptions”), Marielle Martiniani-Reber (“Quelques aspects des relations entre productions textiles byzantine et arabe aux Xe-XIe siècles”), Elena Papastavrou (“Osmosis in Ottoman Constantinople: The Iconography of Greek Church Embroidery”), Jacopo Gnisci (“Ecclesiastic Dress in Medieval Ethiopia: Preliminary Remarks on the Visual Evidence”) und Dickran Kouymjian (“Armenian Altar Curtains: Repository of Tradition and Artistic Innovation”) werden technische und künstlerische Rezeptionsvorgänge anhand von konkreten Fragestellungen diskutiert. Deutlich wird dabei insbesondere die enge Verflechtung der östlichen Mittemeerwelt mit dem Nahen und Fernen Osten sowie mit Afrika. Die Autoren und Autorinnen betreten mit ihren Forschungen teilweise wenig untersuchte Räume (Äthiopien, Armenien) oder konzentrieren sich auf die Diffusion und Adaptierung ausgewählten Muster, Motive oder Techniken. In seiner Zusammenfassung betont Nikolaos Vryzidis sowohl die Spannung zwischen der lokalen identitätsstiftenden Funktion von Textilien als kulturellem Zeichen als auch die interkulturellen Verbreitungsprozesse von textilen Stilen und Mustern. Einmal mehr wird dadurch deutlich, dass die Erforschung von Textilien ein besonders reichhaltiges und ertragreiches Feld für die interdisziplinäre und interkulturelle Mittelalter- und Frühneuzeitforschung darstellt. Farbabbildungen von hoher Qualität verleihen der Lektüre des Sammelbandes zusätzliche Anschaulichkeit.