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16.11.33, Cameron, Arguing it Out

16.11.33, Cameron, Arguing it Out


Die byzantinische Kultur basierte--mehr als das den modernen Rezipienten bewusst ist--auf dem gesprochenen und gehörten Wort. Spuren der Oralität und Auralität lassen sich nur indirekt über die schriftlichen Hinterlassenschaften der Byzantiner nachzeichnen; gerade in der letzten Zeit wird bei der Erstellung von Textausgaben vermehrt die Satzzeichensetzung in Handschriften als Reflex des rhythmischen Verständnisses und des Mithörens des Textes berücksichtigt. Das Gespräch oder der Dialog wurde mannigfaltig in schriftlichen Formen fortgeführt: So galt der Brief seit jeher als ein Gespräch zwischen zwei voneinander entfernten Korrespondenten; der abgeschickte Brief solle den Adressaten zu einer schriftlichen Antwort anregen und den Dialog vervollständigen. Die Situation eines Gesprächs wird in schriftlichen Dialogen am besten abgebildet, seit der Spätantike gibt es die Sammlungen von Fragantworten (Erotapokriseis), welche zumeist theologische Lerninhalte leichter vermitteln können. Ein bekanntes Beispiel ist die Sammlung des Barsanuphios von Gaza aus dem 6. Jahrhundert.

Der vorliegende Band vereint eine Serie von Vorlesungen, welche Averil Cameron an der Central European University (Budapest) im Jahre 2014 gehalten hat. Sie konzentriert sich dabei auf die Diskussion und argumentative Gesprächsführung, welche dem Oberbegriff Dialog zugeordnet werden können. Das Thema "Dialog" und "dialoghafte Literatur" gehört momentan zu den intensiver erforschten Gebieten in der Byzantinistik. Nicht nur in der Spätantike, sondern auch in dem mittlerweile üblicherweise "lang" bezeichneten zwölften Jahrhundert sind zahlreiche Dialoge erhalten geblieben. Die Autorin legte vor kurzem Dialoguing in Late Antiquity (2014) vor und betritt hiermit einen neuen Zeitabschnitt. Dialog als Form der schriftlichen Auseinandersetzung wurde in den Standardwerken der Literaturgeschichte (Karl Krumbacher, Herbert Hunger) kaum als eigenständige "Gattung" definiert und wahrgenommen, da auch die Inhalte unterschiedlichster Natur sind, sie also nicht einer Gattung zufallen. Die Bandbreite reicht von Theologie über Satire bis hin zur Philosophie.

In einer knappen Einleitung skizziert die Autorin die politischen Verhältnisse des byzantinischen Reiches unter den Komnenen, welche Ära sich durch intensive literarische und intellektuelle Tätigkeiten auszeichnete (11). Danach versucht sie das Wesen der mittelbyzantinischen Dialoge kurz zu charakterisieren ("Byzantine dialogues," 10-14).

Im 1. Kapitel, "Inside Byzantium" (15-58), zeichnet Cameron Debatten und Diskussionen nach, die die Bedeutung des exakt geführten Gesprächs im gelehrten/theologischen Diskurs hervorstreichen. Ein anschauliches Beispiel ist die Auseinandersetzung zwischen Eustratios von Nikaia und Leon von Chalkedon bezüglich des Einschmelzens von Kirchengütern für die Finanzierung militärischer Ziele (während der Regierung Alexios' I.). In der Form eines platonischen Dialoges--es begegnen einander die Wahrheitsliebe und die Liebe zur Macht der Gewohnheit--ergreift Eustratios für den Kaiser Partei und argumentiert gegen die Einwände Leons. Am Ende des ersten Kapitels wird Pierre Bourdieu und der Begriff des Habitus angesprochen; wie jüngst gezeigt gehörte es zum habitus eines Angehörigen der byzantinischen Aristokratie und des engsten Hofkreises des 12. Jahrhunderts, sich auch literarisch zu betätigen. Beliebt waren rhetorische Wettkämpfe, welche nicht nur am Kaiserhof, sondern auch in aristokratischen Haushalten und sogar am konstantinopolitanischen Patriarchenhof stattfanden. Im Bemühen um das Erlangen von sozialem Prestige zählten derartige Begegnungen besonders stark. Aus dem zwölften Jahrhundert stammen dialogartige, dramatisch angelegte Texte wie die Satire Timarion oder der Katzenmäusekrieg des Theodoros Prodromos. Gerade hier wird die Liebe der Byzantiner zur Inszenierung und Theatralität evident.

In Kapitel 2, "Latins and Greeks" (59-99), stehen die verbalen Begegnungen zwischen Lateinern und Byzantinern im Mittelpunkt. Andronikos Kamateros, der von Manuel I. beauftragt wurde, eine so genannte "geistliche Rüstkammer" zu verfassen, ist ein treffendes Beispiel dafür (siehe besonders 80-82). Anders als sein Großvater Alexios I., welcher den Mönch Euthymios Zigadenos ebenfalls mit einem solchen Werk beauftragte, betraute Manuel I. den ehemaligen Stadteparchen und höchsten Beamten am Hof, mit einer ähnlichen Aufgabe, die ihm hohes Prestige verschaffte. Darin werden Häresien en detail behandelt und auch die Unterschiede zum lateinischen Christentum herausgestellt. Dem Erzbischof von Mailand, Pietro Grossolano, wird ein eigenes Unterkapitel gewidmet: Dieser reiste 1112 nach Konstantinopel und nahm dort an Religionsgesprächen teil. Pietro hatte ein Schriftstück verfasst, welches vor Kaiser Alexios I. verlesen und diskutiert wurde.

In Kapitel 3, "Jews and Muslims" (101-135), werden die Beziehungen zu Juden und Muslimen beleuchtet, die Texte adversus Iudaeos weisen eine lange Tradition auch in Byzanz auf (Vergleich zwischen Ost und West, 115-120).

Es lag nicht im Sinne der Vorlesungsreihe, Vollständigkeit bei der Behandlung des Phänomens Dialog des zu erlangen. Auf ein interessantes Stück aus dem zwölften Jahrhundert soll dennoch hingewiesen werden: Es stammt aus der Feder des Theodoros Prodromos und behandelt in Dialogform das Schicksal der Freundschaft, die sich ins Exil begibt und die Erde verlässt. In platonischer Manier sinnieren die Freundschaft und der Gastfreund über den Wert zwischenmenschlicher Beziehungen. Nach wie vor in keiner modernen Ausgabe zugänglich, wurde dieses Stück in der Mitte des 16. Jahrhunderts ins Französische übersetzt. Ein weiteres Beispiel, das den dialogischen Charakter byzantinischer Texte unterstreicht, stellt der Christos Paschon dar. Das centoartige Stück (gespeist aus Euripidesversen) behandelt das Leiden Christi, kann aber keiner Sphäre eindeutig zugeordnet werden: Es ist religiös vom Inhalt, folgt aber rhetorischen, klassischen Prinzipien. Weder weiß man, in welchem Kontext dieses Stück "aufgeführt" wurde, noch kennt man seinen Autor. Jedenfalls unterstützt es den Gedanken Camerons, Vorsicht bei der Trennung von säkularen und religiösen Werken walten zu lassen (56).

Was bei der Lektüre der Essaysammlung Camerons klar wird, ist, dass sich die Dialogform in der mittelbyzantinischen Zeit weiterhin als ein ideales schriftliches Vehikel erwies, mit dem unterschiedliche Inhalte lebhaft und einprägsam vermittelt werden konnten. Laut der Verfasserin kann man feststellen, dass ab der Mitte des 11. Jahrhunderts diese Form scheinbar zunimmt (64). Camerons Buch regt an, über Diskussion, Gedankenaustausch und Dialog in Byzanz nachzudenken. Bestätigt wird auch die Skepsis, die Margaret Mullett schon 1992 äußerte, als sie Zweifel am Genrebegriff anmeldete. Da die byzantinische Kultur, insbesondere die literarische Produktion, keineswegs von Starrheit und Unflexibilität, sondern von der Vermischung von Formen und spielerischen Kombinationen geprägt war, ist Camerons Buch eine höchst willkommene Erinnerung daran. Positiv ist auch zu vermerken, dass nun endlich Konzepte wie Performativität und Inszenierung, die schon längere Zeit in der westlichen Mediävistik erprobt wurden, fruchtbar für die byzantinischen Studien gemacht werden können. Last but not least vermittelt das Buch auch Einblicke in die Streitkultur des europäischen Mittelalters, in der es um saubere Argumentationsführung und klare Definitionen ging.