In seiner Monographie untersucht Ryder Patzuk-Russell den Zeitraum von ca. 870, der Besiedlung Islands durch Skandinavier, bis zur Reformation 1550 mit dem Ziel einer holistischen Betrachtung der Entwicklung des Bildungssystems unter sozialen, wirtschaftlichen, intellektuellen und literarischen Aspekten. Dabei geht er von einer relativen Sonderstellung der isländischen Verhältnisse im Vergleich zu anderen europäischen Regionen aus. Insbesondere nennt er drei Schlüsselkonzepte, die maßgeblich seien, um die isländische Bildung in der mittelalterlichen Welt kontextualisieren zu können: Klosterschulen, bischöfliche oder Kathedralschulen und die septem artes liberales, allen voran die Grammatik (8).
Zweifelsohne wurde in der Forschung lange schon das einzigartige Korpus an volkssprachigen Gattungen auch im Bereich der Wissensliteratur gesehen und als Beleg für eine isländische Sonderstellung ins Feld geführt. Innovativ an der vorliegenden Arbeit ist jedoch, dass Patzuk-Russell die Rolle des Lateinischen im Zusammenspiel mit der Volkssprache in den Blick nimmt, um Spezifika des Bildungswesens im Vergleich zu anderen Regionen herauszuarbeiten.
Patzuk-Russell geht von der These aus, dass die Schriftlichkeit auf Island zunächst ans Lateinische gebunden war und diese Sprache durch das gesamte Mittelalter hindurch für die Priesterausbildung, aber auch als Liturgie- und Gelehrtensprache von hohem Prestige trotz der rasch etablierten Volkssprache weiterhin eine erhebliche Rolle in Bildungsbelangen spielte. Mit dieser Position grenzt er sich markant von der älteren--und in weiten Teilen überholten--Forschung ab, die dem Lateinischen mit seinen auf Island zumeist fragmentarisch überlieferten oder erschließbaren Texten nur einen marginalen Einfluss beimaß.
Das erste Kapitel widmet sich der Epoche von ca. 870 bis 1050, in der das christliche Schul- oder Bildungssystem und der damit verbundene Einzug der Buchkultur auf Island noch nicht stattgefunden hatte. Als Quellen werden je nach Themengebiet spezifische Texte, wie z. B. die Grágás für den Bereich des Rechts, herangezogen sowie Íslendinga sögur, die ihrerseits zwar nach einer langen mündlichen Weitergabe erst ab dem 13. Jahrhundert verschriftlicht wurden, aber Beschreibungen weltlichen Wissens und seiner Bedeutung in der untersuchten vorchristlichen Epoche beinhalten. Als in dieser Zeit bedeutsame Bereiche der Bildung werden Recht, Magie, Runenkunde, Dichtung, Handarbeit und Geschichte identifiziert, mit denen ein hohes soziales Prestige verbunden war. Verlässliche Informationen darüber, wie dieses Wissen vermittelt wurde, lässt sich aus den ausgewerteten Quellen jedoch nicht entnehmen. Geradezu bemüht sind dann auch beispielsweise die Argumentationen, die eine Beschäftigung mit Runen auf Island nach der Christianisierung außerhalb von Gelehrtenkreisen und damit eine Vermittlung der Runenschrift nicht ausschließen wollen und eine ähnliche Situation wie in Norwegen unterstellen, wo Runenfunde des 14. Jahrhunderts belegen, dass diese geritzte Schrift lange in weltlichen Kontexten in Gebrauch war (41). Die Problematik um den Aussagewert der von ihm ausgewerteten Quellen ist dem Verfasser bewusst und deswegen weist er die Untersuchungsergebnisse des ersten Kapitels auch lediglich als Rekonstruktion auf der Basis später Texte aus (65). Dennoch erscheint mir die Argumentation des Verfassers insgesamt überzeugend, diesen Teil der isländischen Bildungsgeschichte nicht einfach auszuklammern und zumindest den Versuch zu unternehmen, auch spätere Texte auf mögliche Informationen zu diesem Zeitraum zu befragen, in dem Bildung mutmaßlich überwiegend in einem familiären Umfeld durch mündliche Weitergabe erfolgte und insbesondere das Modell der Pflegeelternschaft häufig praktiziert wurde.
Im sich der anschließenden Epoche widmenden Kapitel 2 untersucht der Verfasser das klerikale Schulwesen, genauer die sich im 11. Jahrhundert etablierenden Kathedral- und ab dem 12. Jahrhundert entstehenden Klosterschulen. Für das weltliche Bildungswesen im familiären Umfeld, wie es in Kapitel 1 beschrieben wurde, nimmt er an, dass es weiter bestanden haben müsse, auch wenn es mit weniger Prestige versehen gewesen sein wird. Als Hauptquellen werden die Biskupa sögur ausgewertet, daneben--und das ist überaus begrüßenswert--auch Zeugnisse des Verwaltungsschrifttums und des Rechts.
Hervorgehoben wird die außerordentliche Flexibilität des isländischen Bildungssystems, das aufgrund der dünnen Besiedlungsstruktur ohne größere städtische Zentren durch Dezentralität gekennzeichnet ist. Bildung war weniger an feste Institutionen oder konkrete Orte im Sinne von skóli gebunden als an Personen, die für die Wissensvermittlung zuständig waren, wie z. B. Priester oder auch Eltern und Pflegeeltern. Insbesondere die sozialen Verflechtungen, die durch das Erziehungspersonal, das Prestige, den Wert und die Qualität des erworbenen Wissens erzielt werden, finden in der Untersuchung Patzuk-Russells Berücksichtigung.
Innerhalb des isländischen Bildungswesens insgesamt wird der außerordentliche Stellenwert der Kathedralschulen Hóla und Skálholt hervorgehoben, für die schließlich das Amt eines Schulmeisters und Chorleiters eingerichtet wurde und die über deutlich mehr Ressourcen und Personal verfügten als nicht institutionalisierte Höfe wie Oddi und Haukadalr. Letztgenannte sind die wohl berühmtesten Repräsentanten und Fortsetzer des angenommenen vorkirchlichen Bildungswesens, das weiterhin überwiegend praktiziert worden sein dürfte.
Über die Geschichte der Klosterschulen halten die mittelalterlichen Quellen nur wenig Informationen bereit, wie Patzuk-Russell herausstellt, und dementsprechend formuliert er seine Darstellung an den Stellen hypothetisch, wo diese zwar wahrscheinlich, aber nicht zwingend ist. Dieser wohl reflektierte Umgang mit den ausgewerteten Quellen, deren Aussagewert immer wieder erörtert wird, zeichnet die Arbeit in besonderer Weise aus.
Dennoch ist es stellenweise sehr unbefriedigend, Fragen aufzuwerfen, wie die nach der Motivation der Isländer sich auf Reisen zu begeben, dann aber zuzugeben, dass sie nicht beantwortbar seien. Gerade in diesem Fall wäre es vermutlich auch für gelehrte Reisende anderer europäischer Länder nicht entscheidbar, ob sie ihr Land ausschließlich aus Bildungszwecken oder auch aus religiöser Motivation verlassen haben, und so scheint es nicht besonders glücklich, diese doch weniger wichtige Frage so prominent ins Zentrum zu stellen (130). Wichtiger erschiene mir in diesem Zusammenhang die Feststellung, dass sich die isländische Praxis nicht von einem gesamteuropäischen Usus unterscheidet und Island trotz seiner Randlage in Europa gerade keinen Sonderstatus besitzt, was Gelehrtenreisen betrifft.
Im dritten Kapitel wird die Schlüsselrolle der Liturgie herausgearbeitet, der eine entscheidende Bedeutung für den Gebrauch des Lateinischen im isländischen Bildungswesen zukommt. Genauestens werden Bücherverzeichnisse aber auch literarische Passagen über das Zelebrieren der Heiligen Messe und der damit verbundenen Anforderungen für Priester ausgewertet. Durch diese wird offenkundig, dass das Lateinische durchgängig eine bedeutsame Rolle innehatte. Auch wenn im Vergleich zur Masse volkssprachiger Handschriften nur wenige lateinische auf uns gekommen sind, hat es, wie sorgsam ausgewertete Bücherlisten belegen (152-53 und 178-82), zahlreiche lateinische Handschriften gegeben, die als Standardwerke des mittelalterlichen Bildungskanon gelten dürfen. Auch auf Island wurde also Latein nicht allein passivisch gebraucht, um etwa die Messe vorlesen zu können, sondern war wie im übrigen Europa eine aktive Sprache der mittelalterlichen Gelehrtenkultur und der religiösen Praxis in Wort und Schrift.
Überzeugend kann Patzuk-Russell durch seine Quellenanalysen nachweisen, dass das isländische Bildungsprogramm nicht durch ein fest vorgegebenes abstraktes System, wie das der artes liberales, bestimmt war, sondern durch Erfordernisse, praktische Basiskompetenzen zu erlangen, mit denen durchaus ein soziales Prestige verbunden war. Für den Klerus nennt er Lesen, Schreiben, Singen und die Fähigkeit, den Computus lesen zu können (190). Insbesondere weist er in diesem Rahmen auf die Bedeutung der lateinischen Sprache, speziell der Grammatik, für die Didaktik des Lesenlernens hin (167-69). Auch wenn das Lateinische für Laien sicherlich weniger Relevanz als für den Klerus hatte, beide aber in Teilen gemeinsam unterrichtet wurden, seien Lateinkenntnisse keineswegs auf die letztgenannte Gruppe beschränkt gewesen (169).
Als Schlüsseldisziplin sieht Patzuk-Russell die Grammatik an, die den Weg für eine volkssprachige Unterrichts- und Literartursprache ebnet. Vergleichend betrachtet er das Altenglische, Althochdeutsche und Altnordische und wie sie nach dem Vorbild des Lateinischen Texte des Bildungswesens geschaffen haben. Während der Blick nach England, das nachweislich Einfluss auf das isländische Bildungswesen hatte, gewinnbringend ist, bleibt der Vergleich mit althochdeutschen Texten Notkers von St. Gallen und Otfrids von Weißenburg äußerst oberflächlich und kann nicht überzeugen (191-93).
Das 4. Kapitel konzentriert sich dann auf die isländische volkssprachige Grammatik und unterzieht die Grammatischen Traktate einer eingehenden Untersuchung--auch um das Zusammenspiel und die Verflechtungen von Volkssprache und Latein im Bildungswesen zu erörtern.
Alles in allem hat Patzuk-Russell eine solide Studie vorgelegt, die ein breites Quellenkorpus sorgsam auswertet--allerdings bleiben die altnordischen Texte zur Kartographie und Kosmographie unberücksichtigt. Diese sind unbestritten dem Bereich des Bildungswissens zuzuordnen und zeigen eine breite Überlieferung in Latein und Volkssprache. Zumindest ein Hinweis darauf, dass es diese Texte wie auch weitere aus dem Feld des Quadriviums gibt, hätte erfolgen müssen. Dementsprechend weniger gut belegt erscheint die Behauptung, dass das System der artes liberales kaum Einfluss auf das isländische Bildungswesen gehabt habe. Hier wäre es sinnvoll gewesen, danach zu fragen, wie die artes in den nachgewiesenen lateinischen Handschriften repräsentiert sind, und zudem Studien über die Schriftlichkeit der artes in anderen Teilen Europas hinzuzuziehen. Einen herausragenden Gewinn sehe ich jedoch in Kapitel 3, in dem die Bedeutung des Lateinischen auf Island in all seinen Facetten hervorgehoben und belegt wird. Ebenfalls ertragreich ist die eingehende Auseinandersetzung mit den Grammatischen Traktaten und ein an verschiedentlichen Stellen geworfener vergleichender Blick auf Bildungssysteme anderer Regionen. Jedoch fehlt in dieser Hinsicht ein abschließendes Resümee, das festhält, durch welche Spezifika sich Island von jenen anderen Regionen unterscheidet, aber vor allem, wo die in großen Teilen überwiegenden Gemeinsamkeiten liegen. Diese kritischen Bemerkungen wollen den Wert der Monographie, die die Rolle von Latein und Volkssprache im Bildungswesen Islands auf Basis genauer textlicher Untersuchungen umsichtig erörtert, jedoch nicht schmälern.