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21.12.28 Gilhaus/Kirsch, Der mittellateinische Alexanderroman

21.12.28 Gilhaus/Kirsch, Der mittellateinische Alexanderroman


Die Ausgabe macht einen echten Klassiker der mittelalterlichen Literatur (sofern man die schiere Überlieferung und Wirkung zum Maßstab nimmt) in ansprechend gestalteter, lesefreundlicher Form zweisprachig neu zugänglich: die ‚Nativitas et Victoria Alexandri Magni Regis‘ des Archipresbyters Leo von Neapel, die im 10. Jahrhundert entstand. Sie ist in drei Fassungen des 11. (I1) und 12. (I2/I3) Jahrhunderts überliefert, erhalten in jeweils zwischen 13 und über 30 Hss., I3 außerdem in Frühdrucken unter dem später üblichen Titel ‚Historia de preliis Alexandri Magni.‘

Der hellenistische Alexanderroman, den Leo lateinisch bearbeitete, war in der langen Ära zwischen Spätantike und Früher Neuzeit eine Art Weltbestseller in dem, was der Epoche die Welt war. Erst moderne Wahrnehmungsweise vermochte ihn nicht mehr zu würdigen, weil sie weder ein Werk der Geschichtsschreibung noch eine Spielart des antiken Romans in ihm sehen mochte. Rund 200 Fassungen verbreiteten sich über die Grenzen der griechisch-lateinischen Welt hinaus von Island bis Ostasien. Leos lateinische Version wurde zur Hauptvermittlerin des griechischen ‚Originals‘ (auch ihm liegen mannigfache Quellen zugrunde) ins lateinische Europa. Im Hoch- und im Spätmittelalter diente sie neben anderen lateinischen Alexandergeschichten als wichtigster Ausgangspunkt etwa auch für die deutschsprachige Stoffkonjunktur, die produktiv bis ins 15., rezeptiv noch darüber hinaus bis ins 17. Jh. hineinreicht. So wurde etwa der ‚Alexander‘ Johannes Hartliebs (um 1450), eines vielseitigen Autors und studierten Arztes, zu einem frühen ‚Bestseller‘ des Buchdrucks.

Ein so unzweifelhaft grund-legendes Werk wie das Leos durch eine zeitgemäße, zweisprachige Ausgabe einem weiteren Lesepublikum zugänglich zu machen, trägt seine Rechtfertigung im Grunde in sich selbst und ist rückhaltlos zu begrüßen. Den Rahmen bildet die noch junge Reihe der „Mittellateinischen Bibliothek,“ die sich zum Ziel setzt, „Werke der vielgestaltigen Tradition europäischer Literatur in lateinischer Sprache aus der über zehn Jahrhunderte umfassenden Epoche eines langen Mittelalters mit Wurzeln in der Spätantike und Fortwirken in der frühen Neuzeit“ in Studienausgaben zugänglich zu machen. [1] Ausschlaggebend für die Reihenpassung ist neben der epochalen longue-durée auch die transkulturelle Strahlkraft des betreffenden Werks, und beides erfüllt Leos ‚Alexanderroman‘ fraglos und in vieler Hinsicht. Die Reihe ist grundsätzlich zweisprachig angelegt und zielt ausdrücklich nicht auf Neuausgaben, sondern auf die paratextuell erweiterte und erleichterte Darbietung von schon Ediertem: „Neben einem zuverlässigen lateinischen Text nach neueren Editionen“ gehören „Neuübersetzung sowie Verständnis- und Interpretationshilfen in ausführlichen Stellenkommentaren, Wort- und Sacherklärungen und Einführungen zu Autor und Werk“ (ebd.) zum Profil der Reihe. An diesen Kriterien darf man auch die aktuelle Ausgabe messen--was im Umkehrschluss heißt, dass die philologische Qualität des ‚nach neueren Editionen‘ übernommenen und wiederabgedruckten Textes hier nicht im Fokus stehen muss, weil dieser selbst bereits bei seinem ersten Erscheinen kritische Würdigung erfuhr; und im konkreten Fall ist diese Einschränkung auch für die Übersetzung zu machen, denn auch sie ist lange etabliert und lediglich leicht modifiziert adaptiert (vgl. im Fortgang).

Das gelungene Reihenlayout, der synoptische lateinisch-deutsche Textblock, die eingängige Übersetzung machen die Studienausgabe unmittelbar attraktiv. Für den edierten lateinischen Text (jeweils die linke/gerade Seite) greift sie auf drei separate ‚Alteditionen‘ zurück: die Ausgaben der drei Leo- (resp. ‚Historia de preliis‘-) Rezensionen von Alfons Hilka und Karl Steffens (vgl. Einl. S. XII). [2] Auch die Übersetzung hat einen ‚Paten,‘ nämlich Wolfgang Kirsch, dessen einsprachig deutsche Ausgabe erst unter sperrigem lateinischen Titel, dann unter der marktgerechteren, doch wenig aussagekräftigen Formel ‚Historie von Alexander dem Großen‘ 1975 bei Reclam in Leipzig erschien und binnen weniger Jahre mehrere Neuauflagen erlebte--bemerkenswerterweise im Belletristik-Segment des Verlags. [3] Der Neuhg. folgt Kirsch in dem Leitziel, keine kritische Edition einer der mit I1, I2 und I3 bezeichneten Fassungen in resp. mit deutscher Übersetzung vorzulegen, sondern alle Zusätze und Varianten integriert in den Grundtext darzubieten. Ein solcher ‚Komposittext‘ ist philologisch nicht unanfechtbar, denn er wird durch keine historisch überlieferte Realität (etwa in Form einer stemmatologisch begründeten Leithandschrift einer der Fassungen) authentifiziert. Vielmehr konstituiert er eine Art Summa Leos und seiner Derivate. Da auch kein textbegleitend kritischer Apparat die Überlieferungsbasis erschließt, bleibt allein der Text selbst, um das zur Abgrenzung des in der Überlieferung Getrennten unbedingt Nötige zu markieren. Wie bei Kirsch werden dabei alle Passagen (Satzteile, Sätze, Absätze), in denen der edierte und übersetzte Text über den ‚Grundtext‘ Leos hinausgeht oder von ihm abweicht, durch geschweifte Klammern mit hochgestellter, die Fassung markierender Ziffer gekennzeichnet (nach dem Schema: „Grundtext {2 Zusatz I2 2}“; bei Kirsch gab es überdies auch Fußnoten). Nicht umklammert ist nur der Grundtext, der der Erstfassung I1 folgt. Das System ist zuweilen verwirrend, doch sind die Einschübe nur selten so kleinteilig, dass unübersichtliche Mosaiksätze entstehen (vgl. z.B. 116f.). [4] Häufiger sind satz- und abschnittsweise Umklammerungen, die Zusätze und Varianten einschließen. Von Kirsch (und noch vor ihm Oswald Zingerle [5]) ist auch die lesefreundlich-kleinteilige Kapitelzählung und -gliederung übernommen.

Die Übersetzung (ungerade/rechte Seite) ist durchweg eingängig und klar. Sie folgt Kirsch eng, oft über längere Strecken auch wörtlich, modernisiert aber mitunter Syntax und Vokabular (z.B. ‚Frauen und Kinder‘ statt ‚Weiber und Kinder,‘ ‚entlegene Stellen‘ statt ‚Einöden,‘ lat.abditis, 138f.). Kirschs Version zeigte mitunter mehr poetische Ambitionen, [6] doch aufs Ganze gesehen liegen die Unterschiede in Details, so dass der Hauptvorzug der Neuausgabe darin liegt, dass sie Kirschs Übersetzung durch den synoptischen Abdruck an jeder Stelle kontrollierbar und gegebenenfalls korrigierbar macht.

Im hier hauptsächlich zu würdigenden Neuen der Neuausgabe zeigt der Vergleich mit Kirschs Leipziger Reclam-Bändchen freilich auch, was dieser--ungeachtet des schon für sich hinreichend rechtfertigenden Vorzugs der Zweisprachigkeit--fehlt, nämlich die in durchaus willkommener Weise kommentierenden und erschließenden Beigaben zum Text, die modernen Nutzerinnen und Nutzern, die nicht durchweg vom Fach sind (dann nämlich bräuchten sie auch die Übersetzung nicht), den Zugang erleichtern. In Kirschs ‚belletristischer‘ Leseausgabe waren diese Beigaben auch ohne ‚fachdidaktisches‘ Kalkül recht ausgiebig und selbstverständlich, in der zweisprachigen Studienausgabe trotz des durchaus auch fachdidaktischen Skopos der Reihe sind sie es offenbar nicht. Denn wo Kirsch einen Stellenkommentar auf 36 Seiten (Oktavformat), ein stoff- und kulturhistorisch breit angelegtes Nachwort auf 20 Seiten (der breiten Leserschaft wegen ohne Literaturangaben, aber sichtlich forschungsbasiert) und abschließend ein 5-seitiges Inhaltsregest offeriert, bleibt die Neuausgabe über Gebühr sparsam. Ihr paratextueller Rahmen beschränkt sich auf je 12 Seiten Einleitung und Sachanmerkungen. Die Absenz eines textkritischen Kommentars wurde schon erwähnt, sie ist durch den sekundären Charakter des edierten Textes erklärbar (der Nutzer sieht sich implizit auf Hilka, Steffens und Zingerle verwiesen). Entschieden zu knapp ist aber das im engeren Sinn texterschließende Rüstzeug, zumal man ja wünschen möchte, dass dieses Buch möglichst viele Interessierte und Studierende auch in jenen Disziplinen erreiche, für die Leos Roman als Quellen- und Vergleichstext interessant sein muss, also u.a. in der germanistischen, romanistischen, skandinavistischen (bei bekanntermaßen nur eingeschränkt vorauszusetzenden Kompetenzen im Bereich mittellateinischer Literatur). Zur Genese, primären Rezeption und bis in die Moderne anhaltenden Wirkungsgeschichte des griechischen Alexanderromans (einem „Stück Weltliteratur“ wahrlich, wie die erste Abschnittsüberschrift annonciert, vii) bietet die Einleitung aber allenfalls Schraffuren, und nicht viel mehr zum Profil des lateinischen Autors und seines Umfelds. Meilensteine und Namen der Rezeptionsgeschichte fehlen (anders noch bei Kirsch), die Einleitung fokussiert allzu rasch auf die drei Fassungen, die die Edition summarisch zusammenführt. Zu ihnen wird das Grundlegende immerhin transparent resümiert (ix f.). Angesichts solcher Beschränkungen ist es besonders zu bedauern, dass auch das Verzeichnis weiterführender Literatur sich auf acht Titel beschränkt (xii) und dass auch unverzichtbare rezente Standardwerke darin fehlen. [7]

Eine Konsequenz dieser auch für Editionen unüblichen Kargheit ist, dass auch der Stellenkommentar, der vielfach Kirschs Annotaten folgt (dank Seiten- und Zeilenangaben gerät er gleichwohl übersichtlicher), keine Forschungshinweise enthält. Antike Vergleichstexte und Quellen werden unter Verwendung von Kürzeln aufgeführt und zitiert, die im Buch unaufgelöst bleiben. [8] Aus alledem folgt: Ohne ergänzende Bibliographien, Lexika, Handbücher und ab und an eine Prise Divination dürfte sich zumindest jener Teil der Leserschaft, der sich dem Text aus kulturhistorischem Interesse oder von einer Nachbardisziplin her nähert, unterversorgt fühlen.

Ganz auf seine Kosten kommt dagegen, wer exklusiv am Inhalt, nicht an Prä- oder Kontexten des edierten Werks interessiert ist: Er erhält einen gediegen gebundenen, ansprechend layouteten, intuitiv synoptisch gesetzten Text, dessen Lektüre nicht nur komparatistisch lohnt, sondern auch ‚an sich‘--sei es als Zeugnis einer rasch romanhaft überformten Ausnahmevita zwischen Fakten und Fiktionen, sei es als früher Helden-, Abenteuer- und Reiseroman, der die weitere Gattungsgeschichte maßgeblich mitbestimmen sollte. In dieser Hinsicht ist das Buch auf dem wachsenden zweisprachig-mediävistischen Markt ein großer Gewinn.

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Noten

1. Vgl. Verlagsprospekt: https://www.hiersemann.de/reihen/mittellateinische-bibliothek (24.9.2021).

2. I1, ed. Hilka/Steffens, Meisenheim 1979; I2, ed. Hilka, ebd. 1976/77; I3, ed. Steffens, ebd. 1975.

3. Wolfgang Kirsch (Hg.): Historia de preliis Alexandri Magni. Rezension I1, unter Berücksichtigung der ursprünglichen Fassung des Archipresbyters Leo und der Abweichung der Rezensionen I2 und I3. Leipzig 1975; Historie von Alexander dem Großen [des Leo von Neapel]. Übersetzung aus dem Mittellateinischen, Nachwort und Anmerkungen von Wolfgang Kirsch. Leipzig [4] 1984. 1991 folgte dieser Ausgabe eine mit den Miniaturen der Leipziger Hs. (Stadtbibl. Rep. II.4°.143) versehene bibliophile Übersetzung der Redaktion I2 aus gleicher Feder: Das Buch von Alexander, dem edlen und weisen König von Makedonien. Mit den Miniaturen der Leipziger Handschrift, hg. von Wolfgang Kirsch. Leipzig 1991.

4. Satztechnische Alternativen wie Kursivierung, Fettdruck, Sperrung oder Binnensynopsen hätten wohl mehr Transparenz geschaffen, freilich auf Kosten des ruhigen Schriftlayouts. Ich vermag die Entscheidung daher nicht grundsätzlich zu kritisieren.

5. Oswald Zingerle: „Die Quellen zum Alexander des Rudolf von Ems.“ Im Anhange: Die Historia de preliis. Breslau 1885 (Germanistische Abhandlungen, 4).

6. Vgl. Mechthild Pörnbachers Kritik, hier an der I2-Übersetzung Kirschs (s.o., Anm. 3), in: Francia 19 (1992), S. 316f. („traduction...par endroits...d’une expression recherchée,“ 316).

7. Genannt sei pars pro toto das voluminöse Referenzwerk: La fascination pour Alexandre le Grand dans les littératures européennes (Xe-XVIe siècle), dir. Catherine Gaullier-Bougassas. 4 Bde., Turnhout 2014; zu Leo von Neapel: Bd. 1, 32-37, und Bd. 4, 52-56, zu den Bearbeitungen I1-3: Bd. 4, 30-48 (mit Bibliogr.).

8. In diesem Fall mochten Bibelbücher oder Fälle wie „Arr. an.,“ „Curt.,“ „Plut. Alex.,“ „Oros.“ oder „Ios. ant. Iud.“ noch als eingeführt oder selbsterklärend durchgehen, Mehrdeutiges wie „Iust.“ aber eher nicht--und in jedem Fall fehlen die jeweils genutzten oder zitierten Referenzausgaben.